Von Prof. Dr. Gunnar Stark, Professur für Finanzen an der Allensbach Hochschule
Kapitalanlagen tätigen Unternehmen praktisch aller Versicherungszweige aus den ihnen zufließenden Versicherungsbeiträgen. Gleichwohl spielen Kapitalanlagen in der Versicherungsproduktion eine unterschiedlich starke Rolle. Während Schadenversicherungen mit ihrer geringeren Quote an Versicherungsfällen maßgeblich vom Risikoausgleich innerhalb des Versicherungskollektivs abhängen und weniger von der Verzinsung ihrer Anlagen, prägen die Kapitalanlagen geradezu den Versicherungszweig der Lebensversicherung.
Deren prominentestes Produkt erhebt gar den Versicherungsfall zum Regelfall: die gemischte Versicherung auf den Todes- oder Erlebensfall. Die Qualität der Versicherungsleistung hängt hier weniger vom Versichertenkollektiv (über die Zahl der Todesfälle), hingegen entscheidend von der Rentabilität der mit den Versicherungsprämien über Jahrzehnte hinweg begründeten Kapitalanlagen ab, welche die Höhe der Erlebensfallzahlungen determinieren.
Die Geschäftsgrundlage der Lebensversicherer hat sich ohne deren Verschulden existenziell verändert. In früheren Zinszeiten war es ein recht einfaches Geschäft: Auch in schlichte Bundesanleihen investiert konnten die Gelder der Versicherten Überschüsse über den Rechnungszins hinaus erwirtschaften, weil die Anleiherendite den garantierten Zinsfuß um mehrere Prozentpunkte überschritt. Heute ist es andersherum: Jeder Altvertrag verursacht – gemessen am gegenwärtigen Zinsniveau – einen ökonomischen Verlust.
Bedingt durch ihre langen Vertragsdauern und eine zumeist hohe Wachstumsrate im Neugeschäft, erfahren Lebensversicherer praktisch niemals ein Geschäftsjahr, womöglich kaum einmal einen einzigen Geschäftstag, an dem sie an ihre (alten) Kunden mehr an Versicherungsleistungen zu zahlen hätten als sie von (bestehenden bzw. neuen) Kunden an Versicherungsprämien empfangen. Mit anderen Worten: Das Lebensversicherungsunternehmen ist ein steter Nettozahlungsempfänger, dessen Verpflichtungen gegenüber künftigen Versichertengenerationen freilich ständig zunehmen.
Umso wichtiger ist der Blick auf Vermögen und Verpflichtungen, welche nach gesetzlichen Regeln geschäftsjährlich in der Bilanz wertmäßig abgebildet werden, während die Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) ein Bild der ertraglichen Situation auch der Kapitalanlagen liefern soll. Aus diesen beiden – Bilanz und GuV – wiederum wird eine viel beachtete Größe gewonnen, welcher nachgesagt wird, die Rentabilität der Kapitalanlagen von Versicherungsunternehmen – gleich welchen Zweigs – nachzuzeichnen: die jährliche Nettoverzinsung, bei vielen Versicherungsunternehmen trotz Nullzinsphase immer noch mit mehr als vier Prozent ausgewiesen.
Dabei erzeugt die Nullzinsphase für die Träger klassischer Kapitallebensversicherungen mit (garantierten) Rechnungszinssätzen von bis zu 4% eine in doppelter Hinsicht verlustträchtige Position:
Vereinfachtes Beispiel: Ein im Jahre 2000 unter dem Rechnungszinssatz von 4% abgeschlossener Vertrag ende (voraussichtlich) im Jahr 2030. Sein aktuelles Deckungskapital betrage 50.000, die Jahresprämie 1.000 Euro. Somit sind in Höhe des bestehenden Deckungskapitals bereits 2.000 Euro jährlich zu erwirtschaften, was mit früher erworbenen Festzinsanleihen, z.B. der 4% Kuponanleihe von 2005 bis 2037 der Bundesrepublik Deutschland, immerhin möglich ist. Mit den jährlich hinzukommenden Prämien müssen jedoch neue Investitionen getätigt werden, die risikoarm freilich keine 4% abwerfen – es sei denn, dem wäre durch Zinstermingeschäfte zu rechter Zeit vorgebeugt worden.
Hinzu kommt der Zinseszins. Kurzum, in solcher Lage sind Verluste programmiert, die zu kompensieren ökonomisch kaum, buchhalterisch jedoch einfach möglich ist: durch Hebung stiller Reserven, insbesondere jener Bewertungsreserven, die festverzinslichen Anleihen innewohnen, solange ihre Restlaufzeit noch wesentlich ist. Hierzu bedarf es lediglich eines Anleiheverkaufes.
Beispiel: Ein Lebensversicherer hält seine gesamte Kapitalanlage von 100 Millionen Euro in der 2,5 Prozent Bundesanleihe mit Laufzeit bis 2044, gekauft im Emissionsjahr 2012 zum Kurs von – und eben damit in den Büchern – 100 Prozent.
Das bringt 2,5 Millionen Zinsertrag und somit eine Nettoverzinsung seiner Kapitalanlage von 2,5 %. Für eine sichere Sache aktuell eine ansehnliche Rentabilität. Aber: Etliche Konkurrenten zeigen höhere Nettoverzinsungen und – noch schlimmer – viele Kunden haben Anspruch auf mehr. Daher greift unser Lebensversicherer 2021 zu einer besonderen Maßnahme: einem dosierten Verkauf von drei Millionen nominal seiner 2,5 Prozent Bund 12/44 zum Börsenkurs von 160 Prozent (Zahlen gerundet). Der Kurs ist so hoch, weil neu emittierte Bundesanleihen keine Verzinsung mehr bieten, verzinsliche Altanleihen daher an Wert gewonnen haben. Damit entsteht ein Veräußerungserlös von 4,8 Millionen Euro.
Dieses Geld braucht der Lebensversicherer eigentlich nicht, weil ihm wie den meisten deutschen Lebensversicherern dank langer Vertragsdauern und reichlich Neugeschäft aus dem laufenden Betrieb ohnedies ein Zahlungsüberschuss entsteht. Somit muss der Erlös zwangsläufig wieder in eine neue Anlage fließen. Worin liegt dann der Sinn des Verkaufs? Einzig in seiner Wirkung im Rechenwerk. Der Buchgewinn von 1,8 Millionen (4,8 Millionen Veräußerungserlös minus drei Millionen Buchwert) erhöht den buchhalterischen Unternehmensgewinn um ebendiesen Betrag und die Nettoverzinsung beträgt statt 2,5 Prozent damit 4,3 Prozent.
Ökonomisch entsteht in dem Moment des Anleiheverkaufs freilich kein Gewinn, sondern nur ein Tausch von Anleihekurswert in Zahlungsmittel bzw. die Umwandlung künftiger Zinserträge (hier 24 mal 75.000 Euro) – die späteren Geschäftsjahren fehlen werden – in gegenwärtigen Kursgewinn (einmal 1,8 Mio. Euro). Weil das Lebensversicherungsunternehmen für den Veräußerungserlös keine andere Verwendung hat, fließt dieser allerdings zwangsläufig wieder zu den Kapitalanlagen, z.B. durch Kauf einer Bundesanleihe, vielleicht gar erneut der 2,5% Bund 12/44 – diesmal aber zum Kurs von 160 %. Insoweit wäre finanzwirtschaftlich wieder alles beim Alten, doch hinterlässt der Zirkel solcher Transaktion im Rechenwerk eine erwünschte Spur: höheres Jahresergebnis und höhere Nettoverzinsung.
Diese Spur ist auch nachvollziehbar, erscheint solcher Kursgewinn in der Gewinn- und Verlustrechnung doch in der Position „Gewinne aus dem Abgang von Kapitalanlagen“ (allerdings nur summarisch). Dies gilt jedoch nicht, wenn der Versicherer die Anleihe nicht direkt, sondern in einem Spezialfonds hält – einem Investmentvehikel mit wenigen Anlegern, oft nur einem einzigen institutionellen Investor, der somit auch die Fondsausschüttung autonom bestimmen kann.
Würde der Versicherer aus dem Beispiel also die nämliche Bundesanleihe innerhalb eines Fonds halten, wüsste man aus seiner Rechnungslegung nur: Das Vermögen besteht in einem Spezialfonds von 100 Millionen Buchwert und 160 Millionen Marktwert, aus dem Ausschüttungen von 4,3 Millionen geflossen sind. Jedoch bleibt verborgen, wie der Fonds diese 4,3 Millionen erwirtschaftet hat: durch Zinserträge, Kursgewinne, vielleicht auch gar nicht (in dieser Höhe), denn eine Ausschüttung lässt sich auch ertragslos, sogar bei Verlusten aus vorhandener Liquidität durchaus leisten.
Die unten zitierten Studien betrachten diese Zusammenhänge theoretisch sowie im Rahmen einer Jahresabschlussanalyse empirisch und schließen:
Im Studiengang Master Finance (M.A.) der Allensbach Hochschule lernen Sie mehr zu solchen wesentlichen finanzwirtschaftlichen Themen.
Literatur
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