Erweiterung des Horizonts? Zum Zusammenhang zwischen Semiotik und Digitalisierung

Semiotik ist die Wissenschaft von den Zeichenprozessen in Kultur und Natur. Ohne Zeichenprozesse wären Wahrnehmung, Lernen, Erinnern, Kommunikation und kulturelle Bedeutungen nicht möglich. Gerade im Zeitalter der Digitalisierung spielt das eine besondere Rolle.

Von Prof. Dr. Patrick Peters, Professor für PR, Kommunikation und digitale Medien und Prorektor für Forschung und Lehrmittelentwicklung an der Allensbach Hochschule

Semiotik gehört zu den Begriffen, mit denen gerne im öffentlichen und auch akademischen Diskurs jongliert wird, ohne dass aber die Bedeutung für alle Beteiligten wirklich eindeutig ist. Nach der Definition des einschlägigen Lexikons der Sprachwissenschaft verstehen wir unter Semiotik zunächst die „Theorie und Lehre von sprachlichen Zeichen und Zeichenprozessen, in deren Zentrum die Erforschung natürlicher Sprache als umfassendstem Zeichensystem steht“ (S. 595). Ein Zeichen wiederum ist die „Abstraktionsklasse aller sinnlich wahrnehmbaren Signale, die sich auf denselben Gegenstand oder Sachverhalt in der realen Welt beziehen“ (S. 761).

Oder anders gesagt: Ein Zeichen ist im weitesten Sinne etwas, das auf etwas anderes hindeutet oder etwas bezeichnet. Daher fragt die Semiotik „allgemein danach, was alles Zeichen sein kann, nach den Ordnungen und Strukturen von Zeichensystemen, den verschiedenen Funktionen und Gebrauchsweisen von Zeichen, nach ihrer Materialität, Medialität, Performativität und Ästhetik sowie nach den Beziehungen zwischen verschiedenen Zeichensystemen und Medien“ (DGS e.V.). Und Umberto Eco, wohl einer der bekanntesten Semiotiker überhaupt, definiert seine Disziplin derart, dass die „Semiotik alle kulturellen Vorgänge (d.h. wenn handelnde Menschen ins Spiel kommen, die aufgrund gesellschaftlicher Konventionen zueinander in Kontakt treten) als Kommunikationsprozesse untersucht“ (S. 32).

Zeichentheorie und Zeichenprozesse im digitalen Raum

Semiotik fragt also, wie wir Bedeutung aus Dingen ableiten, entweder individuell oder kollektiv als Gruppe. Wie wir Bedeutung ableiten, ist in allen Disziplinen, einschließlich der Technologie, wichtig. Dass sich Kultur und Kommunikation nun im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung maßgeblich verändern und bereits auch längst verändert haben, ist wohl nicht mehr als eine Binsenweisheit. Daher stellt sich auch die Frage, ob und wie sich Zeichentheorie und Zeichenprozesse, die ja laut Umberto Eco alle kulturellen Vorgänge als Kommunikationsprozesse versteht und dementsprechend untersucht, durch die Digitalisierung verändern und wie wir Semiotik im digitalen Raum benötigen.

Ein Meme ist die kleinste Einheit der Kultur oder ein Zeichen für gemeinsame Erfahrungen

Für das Studium der Zeichen im Kontext des digitalen Raums hat sich der Begriff „Digitale Semiotik“ etabliert. Er erklärt, warum Semiotik besondere Relevanz fürs Digitale hat. Ein Beispiel für die Verknüpfung von Digitalität, digitaler Kultur und Kommunikation und Semiotik ist das Meme. Ein Meme ist ein kreativer Inhalt, der sich vorwiegend im Internet verbreitet. Dieser ist in der Regel humoristisch und aufheiternd, manchmal auch satirisch und entsprechend gesellschaftskritisch. Was viele nicht wissen: Memes sind Teil des semiotischen Studiums. Ein Meme ist die kleinste Einheit der Kultur oder ein Zeichen für gemeinsame Erfahrungen. In der Linguistik und verwandten Bereichen ist eine emische Einheit eine Art abstraktes Objekt. Es gibt andere emische Einheiten innerhalb der Semiotik, einschließlich des Semems. Das Semem ist ein Begriff der linguistischen Semantik. Es bezeichnet sich aus Semen, also einzelnen kleinsten Elementen der Bedeutung von Wörtern, ergebende semantische Einheit.

Sememe und Meme sind daher, kurz gesagt, die kleinstmöglichen Bausteine, aus denen Zeichen bestehen. Basierend auf dem Konzept des US-amerikanischen Mathematikers, Philosophen, Logikers und Semiotikers Charles Sanders Peirce sind Zeichen das Ergebnis von zwei Komponenten: dem Signifikant (das, was man erkennt) und dem Signifikat (das, was man entweder durch erlernte Konvention, Ähnlichkeit oder eine zufällige Verbindung versteht). Zeichen müssen grundsätzlich sowohl ein Signifikant als auch ein Signifikat haben.

Meme als Bild-Text-Kombination basiert auf Wissen und Erwartungen

Nehmen wir als Beispiel das folgende Meme.

Es zeigt den berühmten deutschen Dichter Johann Wolfgang von Goethe mit einem genervt-geringschätzigen Blick, der sich leicht vom Betrachter abwendet, in Kombination mit dem Ausruf „Ach du meine Goethe“. Das ist natürlich eine Adaption des bekannten „Ach du meine Güte!“ als Aufruf des Erstaunens, des Entsetzens und wird hier mit dem Bild Goethes verknüpft. Das soll humoristisch sein, aber natürlich auch einen gewissen kulturellen Bezug herstellen, hat demnach verschiedene Bedeutungsebenen. Linguistisch erkennt man auf der Ebene des Signifikants, dem „Bezeichnenden“, dem „Lautbild“ eines Signifikats, aus der Folge von Buchstaben beziehungsweise Lauten eine bestimmte sprachliche Struktur, auf der Ebene des Signifikats die dazugehörige, sprachlich und kulturell erlernte Bedeutung (die in diesem Falle noch zusätzlich mit der redensartlichen Bedeutung speziell im deutschen Sprachraum verknüpft ist).

Zusätzliche semiotische Relevanz im Sinne der digitalen Zeichenprozesse erhält das Meme eben durch seine linguistische Rolle als kleinste Einheit der Kultur oder ein Zeichen für gemeinsame Erfahrungen. Das Meme als Bild-Text-Kombination mit einer bestimmten aus dem kulturellen Verständnis herleitbaren Bedeutung übernimmt damit eine zusätzliche semiotische Rolle. Diese ist an ein bestimmtes Medium (das Internet) geknüpft. Sie basiert auf Wissen und Erwartungen menschlicher Kommunikation und Kultur, unterstützt beim Wahrnehmungs-, Orientierungs- und Interaktionsverhalten und dient bestimmten Signalprozessen.

Semiotik ist prädestiniert für die Visualisierung von Zeichen

Welche Bedeutungstiefe bringt dies nun für den Zusammenhang zwischen Semiotik und Digitalisierung? Generell gilt die Beobachtung, dass Semiotik  grundsätzlich medien-, wahrnehmungs- und sinnübergreifend ist. Das bedeutet, es werden Formen und Gattungen deutlich sichtbarer kombiniert. Daher ist Semiotik prädestiniert dafür, sich mit der Visualisierung von Zeichen und der Verbildlichung von Botschaften und Codes auseinanderzusetzen. Das betont auch die semiotische Forschung. „Als Grundlagen- und Metawissenschaft geht die Semiotik der Frage nach der Zeichenhaftigkeit kultureller und natürlicher Phänomene nach. Dadurch bietet sie unterschiedlichen Disziplinen und Praxisfeldern ein interdisziplinäres Forum an und stellt auch theoretische Grundlagen für die Analyse interkultureller Verständigung bereit.“ (DGS e.V.)

Digitalisierung erweitert den semiotischen Horizont

Nach Eco (S. 31) muss die Semiotik auch die „Prozesse untersuchen, die, ohne die Bedeutung direkt einzubeziehen, die Zirkulation von Bedeutung ermöglichen.“ Das ist der Unterschied zwischen Semiotik und Semantik. Während die Semiotik sich nicht allein auf sprachliche Zeichen bezieht, sondern alle Arten von Zeichen, ist die Semantik die Lehre von den Bedeutungen der Wörter und den Zusammenhängen zwischen diesen Bedeutungen. Das schlägt die Brücke zum Goethe-Meme. Es transportiert Bedeutung auf semantischer Ebene, aber eben noch mehr auf semiotischer Ebene. Das Meme spricht als Zeichen schon für sich und zirkuliert damit Bedeutung, um mit Eco zu sprechen. Und diese Bedeutung liegt in der Vermittlung eines humoristischen, satirischen, vielleicht gesellschaftskritischen Inhalts als eine Form der Kommunikation, in der die Zeichen miteinander in Beziehung stehen. Die Digitalisierung erweitert den semiotischen Horizont. Ohne Semiotik sind wir nicht in der Lage, die digitalen Codes in Kunst, Kommunikation und Kultur zu verstehen.

Bußmann, Hadumod (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Kröner.

Deutsche Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V. (2023): Was ist Semiotik? Zugriff am 4. April 2023 unter https://www.semiotik.eu/Semiotik.

Eco, Umberto (2002): Einführung in die Semiotik. Autorisierte deutsche Ausgabe von Jürgen Trabant. 9., unveränderte Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink.

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